Theatralität des Wissens als Raum und als Text
Abstract
Die Bühne eines Theaters gibt Raum für dramatische Handlungen, in denen die Welt in all ihren Aspekten repräsentiert wird. Es ist daher nicht erstaunlich, daß das Theater in dieser Funktion auch als Metapher für die Speicherung von Wissen verwendet worden ist, so wie auch das Museum, die Bibliothek, ein Gebäude oder eine ganze Stadt. Das bekannteste Beispiel für ein Wissensgebäude ist, sieht man einmal von utopischen Konzepten ab (Rabelais, Campanella, Andreae), der Escorial bei Madrid, den die Zeitgenossen eine Arche Noah des Wissens nannten. Es gibt Spuren, die vom Escorial zurück zu Camillos Idea del theatro führen, einem kanonischen Text der Gedächtniskunst-Debatte des 16. Jahrhunderts. Camillo stellt sich ein Amphitheater vor, auf dessen Rängen das Wissen in systematischer Form untergebracht ist. Er kehrt so die normale Theaterperspektive um: Die Zuschauer sitzen nicht mehr auf den Rängen und betrachten die dramatische Handlung auf der Bühne, sondern der Wissensuchende steht dort und findet das Wissen auf den Rängen. Camillo befreit den Blick aus dem geschlossenen Gehäuse der zeitgenössischen Anatomie-Theater (Bologna, Padua, Amsterdam), in denen die Studenten auf den zentralen Demonstrationstisch schauen, an dem der Professor als Autorität agiert. Camillos Idea del theatro öffnet gleichwohl nicht den Weg zur modernen Wissenschaft, da seine Idee noch kabbalistischen und esoterischen Vorstellungen verhaftet ist. Eine moderne Enzyklopädie, die unser gesamtes Wissen erfassen und strukturieren würde, ist nicht mehr möglich. An ihre Stelle aber könnte der sich ständig selbst korrigierende wissenschaftliche Dialog treten.