Call for Papers Ausgabe 11: Erschöpfung

2025-12-23

Die Figur der Erschöpfung ist zu einer Schlüsselmetapher spätmoderner Gesellschaften geworden. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache kennt zwei Bedeutungen von ‚erschöpfen’: „etw. völlig nutzen, bis nichts mehr übrig bleibt” und „jmnd. bis zur Kraftlosigkeit ermüden” (DWDS o. J.). Alain Ehrenberg hat in seiner vielbeachteten Studie Das erschöpfte Selbst (2004) die Diagnose gestellt, dass der Übergang von einer Disziplinar- zu einer Leistungsgesellschaft mit neuen Subjektivitätsformationen einhergeht: Nicht mehr das Übertreten von Normen, sondern das Scheitern an den Anforderungen von Autonomie, Selbstverwirklichung und Leistungsbereitschaft rückt ins Zentrum gesellschaftlicher Pathologien. Darauf aufbauend haben zahlreiche Autor:innen die Frage nach den sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen von Müdigkeit, Burnout und Überforderung gestellt (vgl. Han 2010; Rosa 2013; Illouz 2019).

Erschöpfung zeigt sich jedoch nicht allein auf der Ebene des Subjekts. Ressourcenknappheit, ökologische Krisen und geopolitische Konflikte lassen sich ebenso unter dem Signum der Erschöpfung deuten (Latour 2017; Moore 2015). Zugleich verweisen Debatten um Mental Load und Care-Arbeit auf die ungleiche Verteilung von Belastungen in Geschlechter- und Machtverhältnissen (van Dyk/Haubner 2021). Politisch betrachtet lässt sich Erschöpfung als Symptom demokratischer Ermüdungsprozesse (Hochschild 2017) oder als Motor neuer Formen der Mobilisierung analysieren.

Vor diesem Hintergrund lädt die Redaktion Beiträge ein, die das Thema Erschöpfung aus unterschiedlichen theoretischen, empirischen und (inter-)disziplinären Perspektiven bearbeiten. Mögliche Themenfelder für etwa kultur-, politik- oder sozialwissenschaftliche Analysen sind u. a.:

  1. Subjektive Erschöpfung

Körper, Gesundheit und Affekte, z. B. affektive Dimensionen zwischen Niedergeschlagenheit, innerer Leere, Ruhelosigkeit, Reizbarkeit und Frustration; Analysen zu Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom, Burnout, Depression sowie zu Fragen der Anerkennung und Versorgung; intersektionale Analysen von Überlastung in Erwerbsarbeit, Reproduktions- und Sorgearbeit

  1. Gesellschaftliche Erschöpfung

Krise der Demokratie als Erschöpfung gesellschaftlicher Ressourcen; Krisenanfälligkeit und Überlastung von Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Energie- und Verkehrssystemen; fehlende Kapazitäten für demokratische Partizipation; Ermüdung und Aktivismus; Kapitalismus als kollektives und individuelles Erschöpfungssystem; Self-Service in digitalisierten Gesellschaften

  1. Erschöpfung des Planeten – globale Perspektiven

Reproduktionskrisen, Klimakollaps, Polykrise und postkoloniale Dimensionen von Erschöpfung; Rohstoffverknappung, Sacrifice Zones und die Grenzen des Wachstums; transnationale Care-Ketten und Ökonomien der Erschöpfung; Migration und Prekarität

  1. Kulturelle Repräsentationen

Verarbeitung von Erschöpfung als Motiv in Literatur, Medien, Popkultur und Kunst sowie Narrative der Erschöpfung in gesellschaftstheoretischen Diagnosen zwischen Beschleunigung, Prekarität und Dauerkrise; Körperpolitiken; Erschöpfung in Sport, Popkultur, Sexualität und Biopolitik

Wir begrüßen theoretische Beiträge ebenso wie empirische Studien und methodologische Reflexionen. Besonders erwünscht sind Arbeiten, die die intersektionalen, globalen und interdisziplinären Dimensionen des Themas herausarbeiten.

Einreichung von Beiträgen

Abstracts können ab sofort bis zum 1. März 2026 (450-600 Wörter) eingereicht werden. Eine Rückmeldung erfolgt bis zum 31. März 2026. Vollbeiträge müssen bis zum 15. September 2026 eingereicht werden. Eine Annahme des Abstracts stellt keine Garantie zur Veröffentlichung des finalen Beitrages dar. Verwenden Sie für Ihre Einreichung bitte die Funktion auf unserer Webseite https://journals.uni-due.de/diskurs/about/submissions. Bei Fragen steht Ihnen unser Redaktionsteam gerne zur Verfügung: diskurs-redaktion@uni-due.de. Finale Einreichungen sollten maximal 50.000 Zeichen umfassen. Weitere Hinweise zur Formatierung finden Sie unter https://journals.uni-due.de/diskurs/libraryFiles/downloadPublic/1

Literatur

DWDS (o.J.): erschöpfen. URL: https://www.dwds.de/wb/ersch%C3%B6pfen#d-1-1 (Zugriff 18.09.25)

Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

Hochschild, Arlie R. (2017). Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt am Main: Campus.

Illouz, Eva (2019): The End of Love: A Sociology of Negative Relations. Oxford: Oxford University Press.

Latour, Bruno (2017): Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

van Dyk, Silke & Haubner, Tine (2021). Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition.