Privilegien – Was leistet der umstrittene Begriff?
Die Coronavirus-Pandemie mit den hitzigen Protesten gegen die Beschränkungen des öffentlichen Lebens; die Welle von globalen antirassistischen Protesten gegen rassistische Polizeigewalt nach der Ermordung von George Floyd; und der Kampf der Jugend für eine Politik, die den Klimawandel ernstnimmt: Das sind nur drei Beispiele für politische Auseinandersetzungen der Gegenwart, in denen Privilegien im Zentrum stehen. Das Privileg, in einer westlichen Industrienation mit funktionierendem Gesundheitssystem zu leben und schon das Tragen einer Maske als Einschränkung der Freiheit empfinden zu können. Das Privileg Weiß zu sein und einem geringen Risiko ausgesetzt zu sein, Opfer von rassistischer Polizeigewalt zu werden. Oder auch das Privileg, alt zu sein und sich für eine klimagerechte Zukunft nicht interessieren zu müssen. Auch zur Analyse sozialer und ökonomischer Verhältnisse wird der Begriff des Privilegs verwendet, etwa wenn vom Privileg des Homeoffice von nicht „systemrelevanten“ Berufen die Rede ist, dem Privileg des Reichtums oder dem Privileg, männlich zu sein.
Der Begriff des Privilegs zielt darauf, sichtbar zu machen, dass zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen immer Asymmetrien zwischen unterschiedlichen Positionen gehören, also etwa Privilegierte und Diskriminierte. Dies wird oft ausgeblendet, wenn nur von den Diskriminierten die Rede ist. Diese sehen dann aus wie der Sonderfall, während die Profiteur_innen der Verhältnisse als solche nicht sichtbar werden. Es geht also um die Frage der hegemonialen Perspektive der „Normalität“, die es den Privilegierten erlaubt, sich nicht als Teil des Problems zu begreifen und es gleichsam abzuwehren.
Während „check your privilege“ – also die Aufforderung, die eigenen Privilegien zu reflektieren – deshalb vielerorts zu einem zentralen Element der kritischen Auseinandersetzung wurde, haben das konservative Feuilleton und die liberale politische Philosophie in der Privilegienkritik einen neuen Erzfeind gefunden – in einer Reihe mit „Identitätspolitik“ und „political correctness“. Während diese Debatten in jüngster Zeit heiß laufen, gibt es erstaunlich wenig theoretische, philosophische und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Privilegien, der Privilegienkritik und den damit verbundenen politischen Kämpfen. Die Zeitschrift diskurs widmet sich deshalb in der kommenden Ausgabe dem Thema der Privilegien und fragt: Was leistet der umstrittene Begriff?
Wir freuen uns über Einreichungen zu folgenden Problemen und Fragen, sind aber auch offen für Einreichungen, die andere Aspekte der Diskussion über Privilegien behandeln.
- Epistemisch: Wie lassen sich überhaupt „die Privilegierten“ und „die Subalternisierten“/„die Diskriminierten“ unterscheiden? Von welcher politischen oder wissenschaftlichen Position heraus lässt sich diese Unterscheidung vornehmen? Hegemonietheoretische, feministische und post- bzw. dekoloniale Traditionen bieten hier fruchtbare Ansätze; es gibt aber kaum allgemeine und systematische Behandlungen dieser zentralen Fragen.
- Empirisch: Was lässt sich aus den gesellschaftlichen Kämpfen für die Kritik der Privilegien lernen? Welche Formen der Kritik von Privilegien werden zum Beispiel in sozialen Bewegungen praktiziert und wie lassen sich diese Formen in Theorie rückübersetzen? Oder auch: Welche Formen von Privilegiert-Sein oder Subalternisiert-Sein bieten überhaupt die Grundlage für politische Kämpfe?
- Normativität und Folgen: Was genau sollte aus der Kritik der Privilegien folgen? Sollten Privilegierte Privilegien abgeben, oder sollten Nichtprivilegierte „empowered“ werden? Oder ist dieser Gegensatz selbst problematisch, obwohl oder gerade weil er vom Vokabular der Privilegien impliziert zu sein scheint?
- Ideen- und Theoriegeschichte: Wie lässt sich der Begriff in theoretischen Debatten verorten und verfolgen? Wo genau kommt er her? Mit welchen Begriffen ist er verwandt? Und welche Rolle spielt er in kritischen Theorien, etwa der Intersektionalität, der feministischen oder antirassistischen Theoriebildung? Und wie verhält er sich zur Kapitalismuskritik? Ist es etwa eine Verwässerung oder eine Präzisierung, wenn man Eigentum als Privileg beschreibt?
- Gegenstimmen: Die Empörung der Liberalen, Konservativen und der Neuen Rechten ist groß angesichts der linken Privilegienkritik. Wie funktioniert diese Kritik der Kritik der Privilegien? Lässt sie sich selbst gewinnbringend in diesem Vokabular beschreiben, als Privilegienverteidigung? Wie ist die zeithistorische und theoriepolitische Genese des Angriffs auf die linke Kritik zu sehen? Und in welchem Zusammenhang steht sie mit anderen Kampfbegriffen wie „Identitätspolitik“ und „political correctness“?
diskurs versammelt innovative sozialwissenschaftliche Arbeiten, die politische und gesellschaftliche Hegemonie, Machtverhältnisse und Praxen originell und kritisch analysieren. Arbeiten aus der Politischen Theorie und der Sozialtheorie sind uns dabei ebenso willkommen wie empirische Analysen. diskurs erscheint in der aktuellen Form seit 2015 einmal jährlich mit einem inhaltlichen Schwerpunktthema und fortlaufender Nummerierung.
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