Call for Papers - Ausgabe 9 "Das Starke im Schwachen und das Schwache im Starken?"

2023-12-05

Der Begriff der 'Vulnerabilität' hat sich zu einem Kernkonzept in gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskussionen rund um sozial ungleich verteilte Zugänge zu Gesundheit und Unversehrtheit, materiellen Ressourcen und sozialer Wertschätzung entwickelt. Die Verbreitung von Vulnerabilitätsdiskursen hängt maßgeblich mit dem Erfolg sozialer Bewegungen zusammen, welche die Diskriminierung sozialer Gruppen mit Verletzbarkeit in systematischen Zusammenhang brachten. Beispielsweise tragen feministische Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt dazu bei, FLINTA* als vulnerabel zu konstruieren, um basierend darauf entsprechende Maßnahmen der Unterstützung und des Schutzes einzufordern. Zur Begründung ihrer Forderungen argumentieren derweil Klimabewegungen, dass besonders junge Menschen langfristig von den Auswirkungen der globalen Klimakatastrophe betroffen seien. Und auch während der Corona-Pandemie wurde in hitzigen medialen Debatten verhandelt, wer als besonders schutzbedürftig gilt und welche Ansprüche und Regeln sich daraus ableiten lassen. In den Beispielen zeigt sich, wie die Legitimation von und das Einstehen für Rechte, Privilegien und Maßnahmen für Menschen einer sozialen Gruppe (oder Gruppenzuschreibung) in öffentlichen Diskussionen vielfach eng an die Konstruktion eben jener Kategorien als vulnerabel geknüpft wird. Im wissenschaftlichen Kontext spielt Vulnerabilität daher nicht nur als Forschungsthema verschiedener Disziplinen eine Rolle, sondern findet sich auch in Diskussionen und Kodizes zur Forschungsethik, die oftmals für vulnerable Gruppen einen besonderen Schutz im Forschungsprozess fordern (u. a. Ethikkodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie).


Die gesellschaftlich gewachsene Sensibilität für die Vulnerabilität bestimmter Gruppen geht einher mit diskursiven Auseinandersetzungen, um die Frage, wer wen legitimerweise als vulnerabel bezeichnen darf. Im Gegensatz dazu zeigen Empowerment-Diskurse, dass persönliche Resilienz und Stärke auch erklärtes Ziel emanzipativer Bemühungen sind. Pädagogische Diskurse fragen beispielsweise nicht nur, wie vulnerable Kinder geschützt werden können, sondern auch, welche Faktoren sie stark und resilient werden lassen. Ebenso richten sich Körper- und Gesundheitsdiskurse auf die Abwehr und Stärkung des eigenen Körpers und dessen Gesundheit (Challenges, Selftracking u. a.). In der Auseinandersetzung mit dem Klimawandel sollen Gebäude, Städte und Infrastruktur zunehmend resilient gestaltet werden, um Extremwetterereignissen trotzen zu können, während die sich verschärfenden internationalen Spannungen die Frage aufwerfen, ob nicht die militärische, ökonomische oder diplomatische Stärke wieder das geeignete Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen ist.


In unserer neuen Ausgabe von diskurs widmen wir uns dem Verhältnis von Resilienz, Stärke und Vulnerabilität. Dazu laden wir zu Beiträgen ein, die sich u. a. mit folgenden Fragen auseinandersetzen:


- Was bedeuten Vulnerabilität, Resilienz und Stärke? In welchem konzeptionell-theoretischen wie empirischen beobachtbaren Verhältnis stehen sie zueinander sowie zu verwandten Termini wie Schwäche oder Betroffenheit? In welchen Konstellationen verkehren, durchkreuzen oder bedingen sich Stärke, Resilienz und Vulnerabilität und wie hat sich das Verhältnis historisch formiert? Wie hängen Diskurse der Resilienz, Stärke und Vulnerabilität mit Gesellschaftsdiagnosen um Eigenverantwortung, Unabhängigkeit, (Selbst-)Optimierung und Wettbewerb zusammen?


- Welche gesellschaftspolitischen Effekte haben Selbst- und Fremdzuschreibungen als vulnerabel, stark oder resilient? Wie nutzen Individuen und Kollektive (soziale Bewegungen, Staaten etc.) solche Zuschreibungen, um eigene Anliegen durchzusetzen oder zu begründen? Auf welche Weise entfalten Zuschreibungen diskriminierende oder Herrschaft stabilisierende Effekte (beispielsweise indem paternalistische Gewalt verschleiert wird)? Inwiefern sind Machtpositionen auf die reflexiv gewordene Produktion von Vulnerabilität angewiesen? In welchen gesellschaftlichen Bereichen werden Stärke und Resilienz wie gefordert und gefördert?


- In welchem Zusammenhang stehen Vulnerabilität, Resilienz und Stärke mit ihrer Er-forschung? Wie tragen wissenschaftliche Studien dazu bei, Individuen oder Gruppen als stark, resilient oder vulnerabel zu markieren? Wie kann Forschung dazu führen, vulnerable Gruppen in ihrem emanzipativen Bemühen zu unterstützen, ohne selbst diskriminierend zu wirken? Welche Bedeutung kommt Resilienz im Forschungsprozess zu? In welchen sozialen Kontexten und Diskursen wird die Darstellung der eigenen (Gruppen-)Vulnerabilität zu einem Mittel der Macht?


diskurs versammelt innovative sozialwissenschaftliche Arbeiten, die politische und gesellschaftliche Hegemonie, Machtverhältnisse und Praxen originell und kritisch analysieren. Theoretische Perspektiven sind ebenso willkommen wie empirische Analysen. diskurs erscheint in der aktuellen Form seit 2015 einmal jährlich mit einem inhaltlichen Schwerpunktthema und fortlaufender Nummerierung. Alle bei uns eingereichten Artikel durchlaufen ein sorgfältiges Verfahren redaktioneller und externer Begutachtung (double blind peer review). Alle veröffentlichten Aufsätze sind online und open access verfügbar. Veröffentlichungen werden über den Publikationsserver der Universität Duisburg-Essen (DuEPublico) indexiert und mit einer DOI versehen. Sie sind so über alle gängigen Datenbanken auffindbar.


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